Haben wir den Kipp-Punkt des Klimas bereits überschritten?
Wir beziehen uns dieses Mal auf einen Artikel, der in der Frankfurter Allgemeine (FAZ) am 8. September 2022 erschienen ist und ergänzen das Thema um ein Interview, das die Frankfurter Rundschau (FR) am 13. September mit dem renommierten Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber geführt hat. Dabei geben wir auch eigenen Interpretationen und Bewertungen etwas Spielraum.
Es zeichnet sich schon jetzt ziemlich klar ab, dass das Pariser 1,5-Grad-Ziel nicht ausreicht, um den Klimakollaps noch zu verhindern. Ungefähr 10.000 Jahre lang war das Erdklima im Holozän recht stabil. Eine internationale Forschergruppe befasst sich seit 2008 mit den Risiken irreversibler, abrupter Änderungen, den sogenannten Klima-Kippelementen.
Zu ihren ersten Ergebnissen gehört die Feststellung, dass sich das Erdklima seit der vorindustriellen Zeit aktuell um 1,1 Grad Celsius erwärmt hat und damit einen „sicheren“ Klimazustand schon hinter sich gelassen hat. Das heißt, dass die im Rahmen des Pariser Klimavertrages angepeilte maximale Erwärmung von 1,5 Grad bereits die irreversible Überschreitung von fünf der heute bekannten 16 Schwellenwerte bedeutet.
Der Forschergruppe gehört der Schwede Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und zugleich Ko-Vorsitzender von „Earth Commission“ an. Er bezeichnet die Klima-Kippelemente als völlig unterschätzte Achillesfersen des Erdsystems. Jene 1,5-Grad-Grenze ist für ihn nicht irgendein politisches Klimaziel, sondern ein „echtes planetares Limit“.
Kurzer Rückblick
Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) schätzte die Wahrscheinlichkeit für das Auslösen von Kipppunkten bei einer globalen Erwärmung um zwei Grad als „hoch“ ein, ab 2,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau als „sehr hoch“. Über die Auswirkungen einer Erwärmung von 1,5 Grad hatte das IPCC nicht weiter philosophiert.
Die Forschergruppe um David Armstrong McKay (Stockholm Resilience Center), Tim Lenton (Universität Exeter) und die PIK-Experten hat gerade alle seit 2008 veröffentlichten relevanten Daten zur Entwicklung der infrage kommenden Kippelemente neu bewertet mit dem Ergebnis, dass das seit Jahrzehnten in der Klimapolitik in Augenschein genommene Zwei-Grad-Ziel als völlig indiskutabel eingestuft werden muss, weil wir bereits bei 1,5 Grad gewaltige Risiken in Kauf nehmen. Eine Überlegung beziehungsweise Aussage wie „Wenn wir 1,5 Grad nicht schaffen, werden es eben wenigstens zwei Grad sein“, ist ein mehr als gefährlicher Trugschluss.
Wir reden inzwischen über eine Liste von neun globalen Kippelementen, die, schon jedes für sich genommen, das gesamte Erdsystem aus dem Lot bringen können, das heißt, es in einen neuen, sehr ungemütlichen Zustand zu überführen. Sieben weitere solcher Kippelemente haben zumindest regional eine starke Bedeutung.
Wer kippt zuerst?
Am unteren Rand des Unsicherheitsbereichs in Bezug auf die Risiken befinden sich im Hinblick auf die aktuelle Erderwärmung um 1,1 Grad diese fünf Kippelemente:
- Eisschilde Grönlands
- Eisschilde der westlichen Antarktis
- Atlantik-Umwälzpumpe im Bereich der Labradorsee
- Absterben der tropischen Korallenriffe
- Auftauen der Permafrostböden
Hier sind nachhaltige Veränderungen schon längst in vollem Gange und tragen bereits jetzt zum Kippen des Erdsystems in einen anderen instabilen Zustand bei. Insofern schlagen die Wissenschaftler mit voller Berechtigung Alarm.
Trendbeschleunigung durch den Kaskadeneffekt
Wenn ein Mensch nur mit einem Gift konfrontiert wird, hat er gute Chancen, einigermaßen mit der Vergiftung klarzukommen. Handelt es sich gleich um einen Cocktail verschiedener Toxine, ist der Organismus meistens chancenlos. So in etwa verhält es sich auch beim Planeten Erde. Schießen gleich mehrere Kippelemente aufgrund gegenseitiger Rückkopplungen über die Grenzen des Erträglichen hinaus, gibt es für das Klima kein Zurück mehr.
Nehmen wir zum Beispiel den Rückgang der Meereisbedeckung in der Arktis. Isoliert betrachtet ist dies allein noch kein Kippelement. Doch die deutliche Verringerung der Albedo aufgrund der viel kleineren hellen Eisflächen führt zu mehr Wärmeaufnahme im dunklen Wasser, was die Erderwärmung noch zusätzlich beschleunigt. Der gesamte Energiehaushalt wird dadurch weit über die nördlichen Polargebiete hinaus immer stärker verändert.
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In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Einschätzungen des renommierten Klimaforschers Hans Joachim Schellnhuber mit anzuführen. Er drückt sich in diesem Punkt nämlich so aus: „Das Langfristziel heißt Klima-Reparatur.“
Schauen wir uns an, wie er seine Aussage begründet.
Ein Klimawandel mit gravierenden Auswirkungen ist faktisch nicht mehr abzuwenden. In spätestens 15 Jahren wird die 1,5-Grad-Marke der globalen Erderwärmung überschritten sein. Worum es also geht, ist die Abwendung von Klimagefahren, die die menschliche Zivilisation oder sogar unsere Spezies auslöschen könnte. Hier liegt die Wahrscheinlichkeit gerade bei ungefähr 50 Prozent, das heißt, wir haben noch Überlebenschancen, wenn wir jetzt alles richtig machen.
So sieht der günstige Fall aus
Wenn die Erderwärmung zwei Grad überschritten hat, kehrt sich der Prozess ganz langsam wieder um und läuft circa 200 Jahre lang zurück bis auf den jetzigen Stand. Dazu muss aber Kohlendioxid aktiv aus der Atmosphäre entfernt werden, indem beispielsweise mit großflächigen Aufforstungen und einer besonders nachhaltigen Landnutzung gearbeitet wird. Was den Städtebau anbetrifft, müsste vor allem das Baumaterial Holz zum Einsatz kommen, weil dieser nachwachsende Rohstoff zugleich als CO2-Speicher fungiert.
Machen wir uns also nichts vor. Zwei Grad mittlere globale Erwärmung heißt, dass sich an Land die Temperatur um drei bis vier Grad erhöht und regional können auch mal fünf bis sechs Grad drin sein. Der gesamte globale Meeresspiegel wird mindestens einen Meter ansteigen, was eine Herausforderung für den Küstenschutz ist. In weiten Teilen Südeuropas wird Landwirtschaft nur mit hochgradig verschwenderischer Bewässerung möglich sein und deshalb vielerorts aufgegeben werden.
In den Tropen wird die feuchte Hitze derart belastend sein, dass dies geradezu Völkerwanderungen weg von den äquatorialen Regionen auslösen wird. Es wird zu einer Migration von Hunderten Millionen Menschen kommen.
Der ungünstige Fall gestaltet sich noch schlimmer
Ab drei Grad Erwärmung ist der Klimawandel gar nicht mehr beherrschbar. Das ist jener „point of no return“, den wir gern auch als „Climate End Game“ bezeichnen können. Die verschiedenen Modelle zeichnen dazu üble Szenarien angefangen vom Kollaps der Weltwirtschaft bis hin zur Auslöschung der Menschheit.
Bei vier Grad steigt der Meeresspiegel gleich um Dutzende Meter, das heißt, dass die meisten heutigen, dicht bevölkerten Küstenzonen verschwinden. In den inneren Tropen ist dann ein Aufenthalt im Freien nicht mehr möglich. In den Andenregionen oder in Zentralasien steht im Sommer kein Wasser zur Verfügung, weil es längst keine Gletscher mehr gibt. Alle heutigen semiariden Gebiete werden zu toten Wüsten umfunktioniert.
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Schon lange bevor wir mit solchen Bedingungen konfrontiert sind, bricht ein erbitterter Überlebenskampf „jeder gegen jeden“ aus. Bereits heute ergeben sich in Deutschland tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte wegen der immer weiterwachsenden Flüchtlingszahlen.
Wie also weiter verfahren?
Zwar wurde diese ominöse 1,5-Grad-Grenze in den Pariser Klimavertrag eingetragen, aber mal Hand aufs Herz, man wusste schon 2015, dass diese nicht zu halten sein wird. Es ging dabei lediglich um ein ehrenwertes diplomatisches Zugeständnis unter anderem an kleine Inselstaaten, die um ihre Existenz fürchten.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass das Pariser Abkommen nichts weiter als Traumtänzerei ist, denn mit komplett freiwilliger CO2-Minderung von ein paar Gutmenschen kommen wir nicht weiter. So konnten die Staaten dieser Welt einschließlich Saudi-Arabien dem auch uneingeschränkt zustimmen.
Für die deutsche Regierung zumindest scheinen die Megaflut im Ahrtal 2021 sowie die vier letzten Dürresommer unverkennbare Warnsignale der Natur zu sein. Doch die Hoffnung darauf, dass 200 Nationalstaaten in konzertierter Aktion ein globales Problem lösen können, ist wohl mehr als naiv.
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Dort, wo wir mit unseren Einsichten heute angelangt sind, hätten wir bereits vor 30 Jahren stehen müssen, als der erste aufrüttelnde IPCC-Bericht veröffentlicht wurde. Es muss uns endlich gelingen, dass jeder von uns das Gemeinwohl attraktiver findet als unseren Eigennutz. Eine solche Gesellschaft müssen wir weltweit bauen. Doch leider haben wir dafür keine Zeit mehr.
Gibt es überhaupt noch eine Chance für die Menschheit?
Es braucht eine konsequente und mächtige politische Führung mit Visionen, die dieser historischen Herausforderung gewachsen ist. Dazu müssten die Medien unbedingt ihren engagierten Beitrag leisten, um den Menschen ein überzeugendes Lösungsnarrativ anzubieten.
Die Krise, die wir gerade mit russischem Gas erleben, hat in erster Linie dazu geführt, auf dem Weltmarkt nach fossilen Ersatzquellen zu suchen. Um aus der russischen Abhängigkeit zu entkommen, spielt nicht einmal der Preis oder die Art der Gasförderung eine Rolle. Im Moment wird lediglich eine Lieferanten-Diktatur durch eine andere ersetzt. Stattdessen hätte man diese unfreiwillige Gelegenheit dazu nutzen müssen, mit allerhöchster Priorität die erneuerbaren Energien im eigenen Lande zu forcieren.
Zwei oder drei deutsche Atomkraftwerke etwas länger laufen zu lassen, ist gewiss vertretbar. Allerdings werden dadurch nur relativ geringe zusätzliche Strommengen bereitgestellt und so getan, als würde eine Debatte über eine wirklich große effektive Transformation im Energiesektor gar nicht nötig sein. Salopp gesagt können Sie gar nicht so viele Reaktoren schnell genug bauen, wie jetzt sofort nötig wären, um unser Klima zu retten.
Dringend notwendig ist doch der umgekehrte Weg, den wir schon längst hätten einschlagen sollen. Wer sparsam lebt, braucht kaum Energie. Wenn wir uns selbst bei jedem Konsumwunsch fragen würden, „brauche ich das jetzt eigentlich wirklich“, wäre schon viel gewonnen. Die Industrie muss Produkte herstellen, die viel länger halten. Reparaturen müssen sich wieder lohnen und viel mehr Menschen sollten in der Lage sein, diese selbst ausführen zu können. Wir müssen weg vom Monopol der Konzerne.
Bild: pixabay.com – GuentherDillingen
Wir brauchen auch nicht alle zwei Monate eine neue Modekollektion, und ob es unbedingt erforderlich ist, dass Formel-1-Rennwagen jeden Tag Tausend sinnlose Runden drehen, darf gern bezweifelt werden. Sollen doch diese Leute wenigstens eilige Arzneimittel von A nach B bringen. Wenn wir weltweit endlich mental bei uns selbst und unseren vermeintlichen Bedürfnissen anfangen, können wir das Ruder vielleicht noch herumreißen.
Beim chinesischen Präsidenten Xi Jinping ist derzeit leider keine Bereitschaft zu erkennen, sich an internationale Klima-Abkommen zu halten, nach dem Motto „China first“. Gleichzeitig sieht alles danach aus, dass die amerikanische Demokratie am Zerfallen ist. Die ganze Hoffnung ist also auf Europa und Afrika gerichtet. Letzteres ist ja in erster Linie vom Klimawandel betroffen.
Im Jahre 1950 lebten in Afrika ungefähr 200 Millionen Menschen, heute sind es schon mehr als eine Milliarde, das ist mindestens eine Verfünffachung innerhalb von 70 Jahren. So müssen wir für das Jahr 2100 mit wenigstens drei Milliarden Afrikanern rechnen. Die EU ist also gut beraten, gemeinsam mit den „benachbarten“ afrikanischen Ländern eine grüne Agenda für die nachhaltige Nutzung der enormen afrikanischen Ressourcen auf den Weg zu bringen. Aber das muss sie unbedingt ohne den erhobenen kolonialen Zeigefinger machen, der anderen Nationen sogenannte westliche Werte aufzwingt.
Beitragsbild: pixabay.com – CSchmidt-EC
Dieser Beitrag wurde am 15.02.2023 erstellt.
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